Zwölf Tage zweitausenddreiundzwanzig. Das neue Jahr liegt in den letzten Tagen vor Silvester immer verheißungsvoll glitzernd vor uns, verspricht Neuanfänge, Starts mit Vollgas, mehr Muskeln, weniger Masse, grüne Smoothies und überhaupt: alles wird gut wenn wir es nur genug wollen. Und dann schlägt das Leben zu.
Mein Januar tröpfelt bisher vor sich hin. Erinnerungen sickern langsam, nach und nach wieder in meinen Kopf, während ich mich Tag für Tag mehr mit dem Gedanken arrangieren muss, dass mein Onkel tot ist und ich ihn viel zu lange nicht mehr gesehen oder auch nur gesprochen habe.
“Manni ist tot” denke ich jeden Morgen in dem Moment, in dem ich mir meinen ersten Kaffee eingieße. Und dann denke ich an den “Cappu”, den wir in Omas Küche immer zusammen getrunken haben. Pulvercappu aus der Dose vom Regal über der Spüle neben dem Fenster. Durch das man die Straße entlang Richtung Kirche gucken und durch die Spitzengardinen immer sehen kann, wer auf der Hof kommt.
Ich denke an Brille und Locken und unseren Handschlag zur Begrüßung. Über den wir immer lachen mussten und mit dem wir uns immer in unsere Begrüßungsumarmung gezogen haben. Er war immer da, in meiner Kindheit, nur den Berg vor unserem Haus runter, die Straße weiter bis zur Ecke, links, der kleine Schlenker zwischen Gemeinschaftshaus und Kirche, zack, da. Oma und Manni. Der Hühnerstall, die alte Scheunentür, Stall, Werkstatt, Holzspäne. Blumen hinten im Garten und Erdbeeren, an heißen Sommertagen zwischen den Beeten, eine in den Korb, eine in den Mund.
Er war immer da, bei Geburtstagen, Feiern, in Gedanken. Und irgendwann nur noch dabei. Anwesend, aber abseits. Ich hatte meine Theorien, warum, aber irgendwas ist immer, reden schmerzt manchmal zu sehr und überhaupt, eigentlich ist alles gut. Muss ja.
“Manni ist tot” denke ich und trauere um die Zeit, die wir hatten und die Jahre, die wir nicht hatten. Um die Verbindung und all die Momente, die ich mit ihm und anderen Menschen verbinde. Ich trauere um die verpassten Anrufe und die nicht genutzten Besuche. Kämpfe mit meinem schlechten Gewissen, weil ich ihm ganz sicher das Gefühl gegeben habe, dass er keine Rolle mehr in meinem Leben spielt. Und noch viel mehr, weil das im vorbeirauschenden Alltag der letzten 10 Jahre auch so war.
Wieder ein Teil meiner Familie, der fehlt. Mir jetzt fehlt, schmerzlich fehlt und das spüre ich erst jetzt, weil es kein später mehr gibt, keine Gelegenheiten. “Manni ist tot” denke ich und versuche, unsere Familienvergangenheit zusammenzupuzzeln. Ich lausche Geschichten und starre in ernste, schwarz-weiße Gesichter auf 100 Jahre alten Fotos. Ich weiß nicht, ob es mich tröstet, aber für den Moment gibt es mir Halt.